Ethik-Expertin warnt vor Nachahmungseffekten bei Suizidberichten
05.09.202513:04
Österreich/Ethik/Suizidbeihilfe/Medien/Kummer
IMABE-Direktorin Kummer erinnert an Verantwortung der Medien, insbesondere bei prominenten Fällen - Forderung nach Ausbau von Palliative Care, um schwerkranke Menschen umfassend zu begleiten
Wien, 05.09.2025 (KAP) Vor den Folgen einer unverantwortlichen Berichterstattung über Suizide warnt die Bioethikerin Susanne Kummer. Medien hätten eine zentrale Rolle in der Suizidprävention, wobei es paradox sei, dass gerade vor dem Welttag der Suizidprävention eine öffentliche Diskussion um assistierten Suizid die Präventionsbemühungen untergrabe, so die Direktorin des Instituts für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) Anlass für ihre Stellungnahme, die am Freitag auf der IMABE-Website sowie als Gastkommentar in der "Presse" (online) veröffentlicht wurde, gab der am Vortag vollzogene, vorab medial angekündigte assistierte Suizid des Autors Nikolaus Glattauer.
In welchem Land auch immer assistierter Suizid legalisiert wurde, sei dieselbe Entwicklung zu beobachten. "Die Zahlen werden nicht weniger. Sie steigen. Wollen wir das als Gesellschaft?", hinterfragt die Expertin. So zeigten Daten aus der Schweiz, dass Suizidassistenz andere gewaltsame Suizidformen nicht seltener gemacht, sondern die Gesamtzahl der Selbsttötungen erhöht habe. Auch seien zwischen 2010 und 2023 die assistierten Suizide von Schweizer Staatsbürgern um 385 Prozent - von 356 auf 1.729 Fälle gestiegen, während die Zahl "konventioneller" Suizide konstant bei etwa 1.000 jährlich geblieben sei.
Mittlerweile weise die Schweiz mit insgesamt rund 2.700 Suiziden pro Jahr eine doppelt so hohe Rate wie Österreich bei vergleichbarer Bevölkerungsgröße auf - wobei jedoch auch hierzulande die Zahl assistierter Suizide seit Einführung des Sterbeverfügungsgesetzes 2022 deutlich gestiegen sei. "2023 waren es noch 98 assistierte Suizide, aber bis Juli 2025 wurden bereits 719 Sterbeverfügungen errichtet und 588 Präparate in Apotheken ausgegeben", berichtet Kummer. Die häufigsten Gründe für den Wunsch nach assistiertem Suizid seien Angst vor Abhängigkeit und Verlust an Würde, Schmerzen hingegen rangierten erst an vierter Stelle, verwies sie auf eine erst heuer veröffentlichte Studie.
Verhängnisvolle Nachahmung
Die Medien trügen eine besondere Verantwortung bei der Darstellung von Suiziden, insbesondere bei prominenten Fällen. Die Weltgesundheitsorganisation aktualisierte 2023 ihre Richtlinien zur Berichterstattung und empfiehlt "Verzicht auf prominente Platzierung, Vermeidung detaillierter Methodenbeschreibungen und besondere Zurückhaltung bei der Berichterstattung über Prominente". Der sogenannte Werther-Effekt, bei dem Nachahmungseffekte durch mediale Suiziddarstellungen auftreten, sei bei Prominenten besonders ausgeprägt. "Kein seriöser Journalist würde einem unbekannten Anrufer eine Bühne bieten, der seinen Suizid ankündigt. Warum geschieht dies also bei Prominenten?", fragt Kummer kritisch.
Erforscht ist dieser Zusammenhang bereits hinreichend: Bereits über 150 wissenschaftliche Untersuchungen belegen laut Kummer, dass sensationelle Suizidberichte in den Medien zu einem Anstieg der Suizidrate führen. Dieser Effekt betrifft auch den assistierten Suizid, wie der aktuelle Leitfaden des Kriseninterventionszentrums Wien hervorhebt. Die Normalisierung des assistierten Suizids als "rationale Lösung" für schwierige Lebenssituationen verstärke diesen Mechanismus zusätzlich.
Gesellschaft weniger solidarisch
Kummer wies auch auf die gesellschaftlichen Folgen: "Menschen, die mit Suizidgedanken ringen, befinden sich nicht auf einer Insel souveräner Autonomie. Im Gegenteil: Wer schwer krank, depressiv, einsam oder hochbetagt ist, durchlebt eine Phase intensiver Verletzlichkeit." Die gesellschaftliche Akzeptanz des assistierten Suizids erzeuge subtilen Druck, so die Ethikerin, indem suggeriert werde, man könnte "den Angehörigen 'eine Last ersparen', dem Pflegeheim 'Kosten vermeiden', der Gesellschaft 'Bürde nehmen'". Dies führe zu einer Entsolidarisierung, die bereits in Kanada auch finanziell kalkuliert werde.
Die Bioethikerin warnt zudem vor einer Verschiebung gesellschaftlicher Solidarität: "Statt helfende Beziehungen zu stärken, die lebensbejahende Alternativen aufzeigen, wird Selbsttötung als individualisierter Ausweg aus schwierigen Situationen als gesellschaftlich akzeptable Option etabliert." Besonders alarmierend sei der hohe Anteil älterer Menschen unter den Fällen: "Mehr als 80 Prozent aller Sterbehilfe-Fälle in Europa sind in der Gruppe der Pensionisten und Hochaltrigen. Verlieren wir die Geduld mit den Alten?" Kennzeichnend dafür und zugleich ein "fatales gesellschaftliches Signal" sei die Äußerung einer hochaltrigen Patientin aus Belgien: "Erst, seit ich gesagt habe, dass ich Euthanasie will, bekomme ich Besuch von meinen Kindern und Freunden."
Bedenkzeit unzureichend
Als ein zentrales Problem nennt Kummer zudem die Verfügbarkeit tödlicher Mittel. Es gelte: "Sperrt man die Waffen weg, gibt es weniger Tote. Je leichter der Zugang zu letalen Mitteln, desto höher die Suizidrate." Die legale Bereitstellung tödlicher Substanzen kehre dieses Präventionsprinzip um. Für "unzureichend" hält die Expertin auch die derzeit beim assistierten Suizid geltende Bedenkzeit in Österreich von drei Monaten bzw. 14 Tagen: Psychiater würden mindestens sechs Monate empfehlen, um die charakteristische Ambivalenz von Suizidwünschen zu berücksichtigen.
Gesellschaft und Medien gleichermaßen müssten um mehr Prävention bemüht sein, so Kummers Appell. "Jeder Suizid ist einer zu viel - auch der assistierte. Statt Solidarität und helfende Beziehungen zu stärken, etablieren wir den individuellen Ausstieg als gesellschaftlich akzeptable Option." Die Expertin fordert den Ausbau von Palliative Care, um Menschen umfassend zu begleiten: Es gelte, Schmerzen zu lindern, Ängste zu lösen, menschliche Nähe zu schenken und das medizinische und pflegerische Personal durch bessere Aus- und Weiterbildung dazu fähig zu machen, Schwerkranke kompetent und empathisch zu begleiten.
Gegen die Forderung von Sterbehilfe-Vereinen, ein "entspannteres Verhältnis zum Tod" zu entwickeln, sei nichts einzuwenden, bemerkt die IMABE-Direktorin. Dies sei aber "nicht dasselbe wie ein entspannteres Verhältnis zum Töten", welches verhängnisvoll wäre.
(S E R V I C E - Sie sind in einer verzweifelten Lebenssituation und brauchen Hilfe? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr und gebührenfrei unter der Notrufnummer 142 erreichbar sowie unter www.telefonseelsorge.at. Hilfsangebote für Personen mit Suizidgedanken und deren Angehörige bietet das Suizidpräventionsportal des Gesundheitsministeriums unter www.suizid-praevention.gv.at.)
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