Grazer Neutestamentler Pichler: Evangelien wurden in Katastrophenzeit als Gegenprogramm zum römischen Imperialismus verfasst und liefern auch heute aktuelle Hoffnungserzählung
Salzburg/Graz, 25.12.2025 (KAP) Die biblischen Weihnachts- und Jesuserzählungen sind nach Einschätzung des Grazer Neutestamentlers Josef Pichler ein bewusstes Gegenprogramm zu Gewalt, Herrschaft und dominanten Männlichkeitsbildern ihrer Zeit. Die Evangelien seien - mit Ausnahme jenes von Johannes - "in eine politische Katastrophenzeit hineingeschrieben" worden und stellten der römischen Machtideologie eine alternative Vision von Menschsein und Zusammenleben entgegen, sagte Pichler in einem Interview mit den "Salzburger Nachrichten".
Das Markus-Evangelium sei vor dem Hintergrund der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 70 n. Chr. entstanden, erklärte der Theologe. Begriffe wie "Anfang", "Evangelium" und "Sohn Gottes" seien dabei "politischer Sprengstoff". Sie seien bewusst gewählt worden, um der römischen Herrschaftsideologie etwas entgegenzusetzen: "Da formulierte in der Peripherie des Reichs eine Minderheit ein Gegenprogramm zur römischen Herrschaft."
Besonders brisant sei der Begriff "Evangelium". Im römischen Imperium habe er die Siegesbotschaft eines Herrschers bezeichnet. "Wenn ich es römisch lese, ist es die Botschaft, dass jemand einen Sieg errungen hat, dass ein Herrscher eine neue Ordnung schafft", so Pichler. Die Evangelien stellten diesem Verständnis jedoch eine andere Deutung entgegen: "Wenn ich es jüdisch lese, ist es eine frohe Botschaft, die den Frieden verkündet."
Unterschiedlich seien auch die Geburtsdarstellungen Jesu bei Matthäus und Lukas zu lesen. Matthäus arbeite mit "Insignien der Macht" wie Stern, Weisen und kostbaren Geschenken. Lukas hingegen erzähle "von unten": "Lukas setzt auf ein Kind, das Wärme, Zuwendung, Pflege braucht." Gerade diese Verletzlichkeit sei theologisch zentral: "An solcher Verletzlichkeit und Angewiesenheit erkennen wir den Gottessohn."
Darin zeige sich ein neues Verständnis von Männlichkeit, das den gängigen Machtbildern widerspreche. Das Evangelium entwerfe ein Modell, das Pichler als Gegenbild zur "hegemonialen Männlichkeit" beschrieb. Diese sei geprägt von "Hierarchie und Machtinszenierung", während die Evangelien auf "Barmherzigkeit, Gewaltverzicht, Feindesliebe" setzten. Besonders Lukas zeichne einen Jesus, der "eine Gemeinschaft von unten her verändert" und sich den Schwachen zuwendet.
Auch Markus setze einen klaren Kontrast zu Herrschaft und Unterwerfung. Stattdessen betone er das Dienen. "Das ist die Revolution dieser Evangelien", sagte Pichler. Gegen Macht und Gewalt stellten sie "ein anderes Miteinander: mit Hoffnung, Barmherzigkeit, Liebe, Fürsorge, Dienen".
Die Friedensbotschaft der Weihnachtsgeschichte sei vor dem Hintergrund von Krieg und Besatzung entstanden und bleibe deshalb aktuell. "Die Evangelien sind von Kriegserfahrungen gezeichnet, sie bieten einen Weg aus politischen Zerstörungen an", so Pichler. Dieser Weg führe nicht über stärkere Macht, sondern über "gelebte Zeichen von Liebe und Dienen, die sich von unten her durchsetzen".
Gerade deshalb sei die Weihnachtsbotschaft auch heute relevant. Die Hoffnungserzählung der Geburt Jesu habe sich "vor allem in Krisenzeiten" als tragfähig erwiesen. "Heute ist sie aktuell, weil unsere Welt in so vielen Punkten nicht in Ordnung oder bedroht ist", befand der Theologe.