Wiener Medizinethiker Ulrich Körtner in "Kleine Zeitung": Interview liest sich "wie eine Werbung für den assistierten Suizid" - Grazer Ethiker Johann Platzer: "Bisher Konsens, dass man Suizide verhindern sollte. Jetzt könnte Recht auf assistierten Suizid Anspruchsrecht werden"
Graz, 05.09.2025 (KAP) Nach dem assistierten Suizid des Wiener Lehrers, Autors und Journalisten Niki Glattauer kritisieren Theologen, Ethiker und Palliativ-Expertinnen den medialen Umgang mit dem Thema. Der Wiener Medizinethiker und evangelische Theologe Ulrich Körtner bezeichnete die Veröffentlichung des Glattauer-Interviews in der Wochenzeitung "Falter" und auf "Newsflix" zwei Tage vor seinem assistierten Suizid für "hochproblematisch". Auch wenn Hinweise auf Hilfsangebote für Suizidgefährdete beigefügt seien, "liest es sich wie eine Werbung für den assistierten Suizid", sagte er der "Kleine Zeitung" (5. September).
Fatal sei zudem, dass suggeriert werde, ein Sterben in Würde könne es nur in Form eines Suizids geben. "Kein Wort zu ambulanten und stationären Palliativangeboten. Stattdessen werden mehr Ärzte gefordert, die zur Unterstützung Suizidwilliger bereit sind", so der emeritierte Ordinarius für Systematische Theologie der Evangelisch-theologischen Fakultät der Uni Wien.
Medien handeln nicht im luftleeren Raum
Ähnlich äußerte sich der Grazer Ethiker Johann Platzer. Glattauers individueller Schritt verdiene Respekt, doch Medien handelten nicht im luftleeren Raum. Gerade bei emotional aufgeladenen Interviews bestehe die Gefahr, dass komplexe Entscheidungen verkürzt, dramatisiert oder gar beschönigt werden, warnte er. Platzer sieht auch das Risiko einer Nachahmung, wenn Suizid generell als nachvollziehbarer Schritt beschrieben werde: "Auch wenn wir den Suizidwunsch einer Person, die aufgrund von Leiden keinen Ausweg mehr für sich sieht, nachvollziehen können, ist es die Aufgabe einer solidarischen Gesellschaft, dieser Person Hilfe zum Leben anzubieten."
Im Fokus müsse der Schutz vulnerabler Gruppen stehen, betonte der Grazer Ethiker und warnte vor einem Paradigmenwechsel: "Bisher war es in unserer Gesellschaft Konsens, dass man Suizide verhindern sollte. Jetzt könnte eine Entwicklung in Gang gesetzt werden, in der das Recht auf assistierten Suizid ein Anspruchsrecht wird." Das könne dazu führen, dass "die Solidarität mit den Schwachen auf der Strecke bleibt".
Kritisch bewertete Platzer auch den oftmals verwendeten Autonomie- und Selbstbestimmungsbegriff im Rahmen der Debatte: "Der Philosoph Thomas Macho spricht diesbezüglich sogar vom Suizid als 'emanzipatorischer' Selbsttechnik'. Er verwendet diesen Begriff, um kritisch eine gesellschaftliche Entwicklung zu beschreiben, in der der Suizid zunehmend als Akt der Selbstbestimmung und Selbstgestaltung verstanden wird - also als eine Form der Emanzipation bis in den Tod hinein." Fraglich werde dadurch die Ethik an sich, "wenn alle anderen ethischen Prinzipien dem hohen Gut der Autonomie unhinterfragt untergeordnet werden".
Palliativmedizinerin: Leben bekommt angesichts des Todes neue Qualität
Bedenken äußerte auch die Grazer Palliativmedizinerin Desirée Amschl-Strablegg an der Botschaft des Interviews. Glattauers Worte hätten den Eindruck vermittelt, "dass da ein sehr einsamer, sehr verzweifelter Mensch spricht". Problematisch sei auch der Titel "Ich will in Würde sterben". Das impliziere, "dass alle, die den Weg anders zu Ende gehen, nicht in Würde sterben". Aus ihrer Erfahrung in Hospiz und Palliativversorgung wisse sie: "Man kann Menschen durch dieses finstere Tal begleiten. Oft kommen dabei Dinge zur Sprache, die vorher kein Thema waren - und das Leben bekommt angesichts des Todes eine neue, andere Qualität."
Die "Mitwirkung an der Selbsttötung" ist in Österreich seit 2022 unter bestimmten Voraussetzungen legal. Laut dem Sozialministerium wurden seit Inkrafttreten des Gesetzes (Stand 1. September 2025) österreichweit 772 Sterbeverfügungen errichtet und von Apotheken 636 letale Präparate abgegeben, wovon 99 Präparate retourniert wurden.
Alternativen wurden ausgeblendet
Auch Experten für Suizidprävention meldeten Kritik an. Golli Marboe, Mitautor des 2021 erschienenen "Leitfadens zur Berichterstattung über Suizid", kritisierte im APA-Gespräch, dass Glattauers Entscheidung in Medienberichten teils als "einzige Möglichkeit, um würdevoll zu sterben" dargestellt werde. Damit würden andere Perspektiven, insbesondere jene aus der Palliativmedizin und der Hospizbewegung, weitgehend ausgeblendet.
Auch die Ausführlichkeit in der medialen Darstellung des Suizidprozesses sei problematisch, verwies Marboe auf den sogenannten Werther-Effekt der Nachahmung. Der österreichische Presserat empfiehlt in seinem Ehrenkodex hingegen ausdrücklich, stattdessen den sogenannten Papageno-Effekt zu fördern: Zeigen, dass es Hilfe gibt und suizidale Krisen überwunden werden können, könne in besonders vulnerablen Phasen weiterhelfen, wobei Hilfsangebote im Kontext solcher Berichte zwingend genannt werden müssen.
Forscher: Viele entscheiden sich anders
Auf die Gefahren vereinfachter Darstellung wies auch der Suizidforscher Thomas Niederkrotenthaler von der MedUni Wien. Es gebe viele andere, in den Berichten über Glattauers Tod nicht dargestellte Wege, mit einem würdevollen Lebensende umzugehen, etwa durch palliativmedizinische Begleitung. Als Beispiel nannte der Experte das Buch "Gut gelaufen" der Medizinerin Eva Masel, das Einblicke in humane Sterbebegleitung abseits der Suizidbeihilfe bietet.
Auch in einem Interview mit dem "Kurier" (5. September) warnte Niederkrotenthaler vor einer "Romantisierung" und Glorifizierung, die Nachahmungseffekte auslösen könne. "Der Tod und das Sterben betreffen alle Menschen und diese Themen lösen in uns allen etwas aus. Oft sind es Ängste. Die Darstellung, dass der assistierte Suizid alternativlos sei und der natürliche Sterbeprozess im Vergleich dazu als sehr tragisch beschrieben wird, verstärkt diese Ängste. Und kann einen Werther-Effekt bedienen", so der Suizidforscher wörtlich. Besonders problematisch sei, dass Glattauers Interview noch vor seinem Tod erschienen sei, wodurch "kein Raum für Zweifel oder ein Zurückrudern gelassen" werde.
Grundsätzlich gälten für die Berichterstattung über assistierten Suizid dieselben Regeln wie bei Suiziden allgemein, betonte Niederkrotenthaler. Dazu zählten Zurückhaltung, Vermeidung von vereinfachten Erklärungen und die Einbindung von Informationen über Palliativ- und Hospizangebote. Medien sollten zudem auf Ankündigungen von Suiziden verzichten und psychosoziale Hilfsangebote anführen, wies der Forscher hin.
Palliative Care ermöglicht Wahlfreiheit
Die Österreichische Palliativgesellschaft (OPG) hat in einer Aussendung am Freitag die öffentliche Mitteilung Glattauers zu seinem assistierten Suizid respektvoll zur Kenntnis genommen und zugleich den Ausbau der Palliativ- und Hospizversorgung in Österreich gefordert. Palliative Care begleite schwer kranke Menschen am Lebensende, lindere Schmerzen, Atemnot, Angst und Einsamkeit und unterstütze auch Angehörige, betonte OPG-Präsidentin Gudrun Kreye.
Man respektiere persönliche Entscheidungen, so Kreye, wolle aber verdeutlichen, dass Palliative Care echte Wahlfreiheit ermögliche und auch geäußerte Sterbewünsche ernst nehme. "Der OPG geht es nicht um ein Gegeneinander, sondern um ein Miteinander, um Respekt und echte Wahlfreiheit", hieß es in der Aussendung. Darin appellierte die OPG auch an Politik und Gesellschaft, die palliative Grundversorgung entschieden auszubauen. Denn: "Dies ist die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben und eine wirksame Form der Suizidprävention."
(S E R V I C E - Sie sind in einer verzweifelten Lebenssituation und brauchen Hilfe? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr und gebührenfrei unter der Notrufnummer 142 erreichbar sowie unter www.telefonseelsorge.at. Hilfsangebote für Personen mit Suizidgedanken und deren Angehörige bietet das Suizidpräventionsportal des Gesundheitsministeriums unter www.suizid-praevention.gv.at.)