Österreich-Koordinatorin Lackner bei Wiener Missbrauchs-Tagung: Vielfach fehlt weiterhin das Verständnis von Prävention als Teil der Leitungsverantwortung - Neuer Fokus auf Formen von "spiritueller Gewalt" - Auch Präventions-Vertreter aus Deutschland und der Schweiz sehen noch Aufholbedarf
Wien, 10.04.2024 (KAP) Die Prävention von Missbrauch ist in der katholischen Kirche Österreichs trotz Fortschritten und Errungenschaften noch nicht an ihr Ziel gelangt: Diese Zwischenbilanz hat die österreichweite Koordinatorin der diözesanen Stabsstellen für Prävention von Missbrauch und Gewalt, Ingrid Lackner, am 10. April in Wien bei der bisher zweiten deutschsprachigen Fachtagung zum Thema in Wien gezogen. Noch bis Donnerstag tauschen sich damit befasste Expertinnen und Experten sowie auch Bischöfe aus Österreich, Deutschland und der Schweiz vor Ort im Kardinal-König-Haus sowie auch Online über die Prävention von Missbrauch aus.
Aufholbedarf sah Lackner insbesondere beim Grundverständnis von Prävention. Diese müsse Aufgabe aller sein, "vor allem aber auch Leitungsverantwortung". Vielfach sei dies jedoch "nicht durchgesickert", befand die Leiterin der Stabsstelle für Prävention von Missbrauch und Gewalt der Diözese Graz-Seckau. Die "Kultur der Achtsamkeit" werde bei Planungen, Konzepten für Weiterbildungen oder Qualitätsmaßnahmen "noch nicht automatisch mitbedacht, oft kommt man dann erst im Nachhinein darauf, dass dieses Thema vergessen wurde". Somit fühlten sie und ihre Kollegenschaft sich in ihren Anstrengungen als alleine zuständig.
Wohl hat sich Lackners Einschätzung zufolge seit dem Jahr 2010 in der katholischen Kirche vieles geändert: Zumindest bei strafrechtlich relevanten Vorfällen werde heute durchaus "nicht mehr weggeschaut oder vertuscht, sondern gehandelt". Daneben gebe es aber auch einen "Graubereich", bei dem noch mehr Augenmerk vonnöten sei als bisher. Betroffene würden sich bei den zuständigen Stellen oft gar nicht melden, "weil sie meinen: Da passiert dann eh nichts". Auch habe sie den Eindruck, die Kirche wolle in der öffentlichen Darstellung "den Ball flach halten und lieber nicht zu viel über Prävention reden" - weil neben den Fortschritten dann auch das, was nicht so gut laufe, thematisiert werden müsse.
Seit 2010 gibt es in allen österreichischen Diözesen Stabsstellen zur Missbrauchs-Prävention, beschlossen in der Rahmenordnung aus dem Jahr 2010, deren dritte Auflage aus dem Jahr 2021 mehrere Neuerungen beinhaltet, wie Lackner zusammenfasste: Berücksichtigt werden demnach auch Formen spiritueller Gewalt und Gewalt in digitalen Medien, weiters die Tatsache, dass außer Kinder und Erwachsenen auch Erwachsene schutzbedürftig sind, sowie die Forderung der Erstellung von Missbrauchs-Schutzkonzepten für alle kirchliche Einrichtungen.
Spirituelle Gewalt
Spirituelle Gewalt liegt laut Lackner dann vor, "wenn persönliche, geistige oder institutionelle Autorität benutzt wird, die Interessen, die Integrität und das Recht auf religiöse Selbstbestimmung einer anderen Person unangemessen zu beschränken", zitierte die Koordinatorin aus der von den Bischöfen beschlossenen Definition. Einiges an Auseinandersetzung und Weiterbildung zu diesem Punkt stehe noch aus, befand die Expertin.
Zum Thema spirituelle Gewalt erklärte Lackner, derzeit sei für zwei Jahre ein Prozedere in Kraft, das dann auch evaluiert werden solle. Nach der Meldung bei Ombudsstellen würden diözesane Kommissionen mit der Überprüfung der Glaubwürdigkeit beauftragt, in denen auch klinische Psychologen oder Psychiater, Kanonisten und Personen mit Erfahrung in geistlicher Begleitung - diese sind in sonstigen Missbrauchs-Kommissionen nicht vertreten - eingebunden sein sollten. Derzeit befinde man sich diesbezüglich jedoch noch in der "Einarbeitungsphase". Finanzleistungen aufgrund spiritueller Gewalt gebe es nur dann, wenn sie in Verbindung auch mit anderen Gewaltform geschehen sei.
Kirche zum sicheren Ort machen
Dass die Kirche zu einem "sicheren Ort für alle Menschen" werden müsse, betonte der Wiener Weihbischof Franz Scharl in seinen Begrüßungsworten, in denen er auf das jüngste Vatikan-Dokument "Dignitas infinita" verwies. Missbrauch werde darin als "Verbrechen gegen die Menschenwürde" und als Narben hinterlassende Verletzung des Menschen in dessen Gesamtheit bezeichnet. Eingeräumt werde, dass Missbrauch ebenso wie die Gesellschaft auch die Kirche selbst betreffe und ein "ernsthaftes Hindernis für ihre Sendung" darstelle. "Darum setzt sie sich unermüdlich ein, um allen Arten von Missbrauch ein Ende zu setzen - und zwar beginnend im Inneren der Kirche", las der Bischof aus Punkt 43 vor.
Mut zur Einmischung
Auch leitende Präventions-Beauftragte aus Deutschland und der Schweiz gaben bei dem Treffen Einblicke in Entwicklungen in ihren Ortskirchen. Sabine Hesse, Sprecherin der seit 2016 bestehenden Bundeskonferenz der Präventionsbeauftragten der deutschen Bistümer, kam auf die Umsetzung der von den deutschen Bischöfen im Jahr 2019 beschlossenen Rahmenordnung Prävention zu sprechen. "Gemeinsames Ziel sollte sein, eine Kultur des achtsamen Miteinanders zu schaffen und zur Einmischung zu ermutigen. Wir müssen aus Fehlern lernen, die Zusammenarbeit zwischen Prävention und Intervention verbessern und Zuständigkeiten für Aufklärung genauer klären", so die Einschätzung der Diplomtheologin.
Bei Themen wie etwa dem Schutz von schutzbedürftigen Erwachsenen leiste die Kirche derzeit Pionierarbeit, "es fehlt jedoch an Unterstützung - etwa für die Durchsetzung eines erweiterten Führungszeugnisses, das in der Kinder- und Jugendarbeit schon klar geregelt ist", sagte Hesse. Ziel sei weiters, in allen pädagogischen Einrichtungen Sexualpädagogik zur Stärkung von Selbstbestimmung und Selbstschutz durchzusetzen, wofür bereits in den nächsten Wochen die überarbeitete Fassung eines Positionspapiers aus dem Jahr 2021 erscheinen soll.
Schweizer Forschungsprojekt
Für die katholische Kirche in der Schweiz berichtete Stefan Lobbacher, Präventionsbeauftragter der Diözese Chur, das Thema Missbrauch werde in der Eidgenossenschaft "maximal heterogen" und kleingliedrig angegangen, bedingt durch unterschiedliche Kirchenstrukturen. Er und seine Kollegenschaft verstünden sich bei den Präventionskursen oder in der Öffentlichkeitsarbeit als "systemkritisch", denn "es darf in der Kirche keine brave, angenehme Prävention geben, die nur abnickt". Klar sei für ihn, dass die bisher "sehr gut gepflegte Mär von der besseren Kirche" - wonach etwa demokratische Strukturen mit viel Laien-Mitbestimmung wie in der Schweiz vorhanden ein Korrektiv für Missbrauch seien - nicht zuträfen. Die im vergangenen Herbst präsentierten ersten Ergebnisse der Schweizer Missbrauchs-Studie hätten dies drastisch vor Augen geführt.
Das von Lobbacher erwähnte Pilot- und Forschungsprojekt zur Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche seit 1950 war 2022 gestartet worden, der Schlussbericht soll 2027 präsentiert werden. Der Churer Experte betonte die Unabhängigkeit der Forschenden; jegliche Einwirkung der Kirche werde ausgeschlossen und höchstmögliche Transparenz garantiert. Das Aktenmaterial - es umfasst schon jetzt mehr als 10.00 Aktenseiten - soll später dem Schweizerischen Bundesarchiv übergeben werden. "Ich bin überzeugt, dass wir einen neuen Standard vorgelegt haben, wie Forschung zu diesem Thema aussehen kann", so Lobbacher.