Vatikanischer Präventionsexperte bei Vortrag in Wien: Katholische Priester die weltweit bestuntersuchte Gruppe in Sachen Missbrauch - Italien heute einziges Land Westeuropas ohne Aufarbeitung - "Theologie der Macht" und ehrliche Reue heute vonnöten
Wien, 26.04.2024 (KAP) Eine Zwischenbilanz über die Missbrauchs-Aufarbeitung in der Kirche weltweit hat der Jesuit Hans Zollner in Wien gezogen. "Es hat sich etwas getan, wir sind aber noch weit entfernt von dem, wo wir sein sollten - vor allem davon, dass die Kirche eine prophetische Stimme wäre", so das Resümee des vatikanischen Parade-Präventionsexperten schlechthin, der am 24. April vor der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft sprach. 14 Jahre nach der großen Missbrauchskrise von 2010 werde die Kirche heute wahrgenommen als die "großen Blockierer, die nichts lernen und denen man nicht zutrauen kann, dass sie im eigenen Haus für Ordnung sorgen". Die Realität sei besser, aber lange nicht perfekt, so der Theologe und Psychologe, der der an der päpstlichen Gregoriana-Universität das Kinderschutzzentrum leitet.
Denn in allen Diözesen weltweit sei die Sensibilität für das Missbrauchs-Thema merklich gestiegen, und auch noch in den vergangenen sieben Jahren habe sich der Fokus geweitet: "Zunehmend kommen außer dem sexuellen Missbrauch von Kindern nun auch andere Übergriffe in den Blick - wie sexuelle Gewalt, physischer, psychischer und spiritueller Missbrauch sowie Machtmissbrauch", so Zollner. Freilich oft durch Medien in den Fokus gerückt, sei das Thema des Missbrauchs in der Kirche überall präsent und werde diskutiert, "besonders wenn die Täter Kleriker sind, von denen zurecht andere Standards und Glaubwürdigkeit als bei anderen Berufsgruppen erwartet werden".
Verzerrtes Bild
Nur in der katholischen Kirche seien Missbrauchszahlen bisher empirisch belegt, "keine andere Institution hat so viele Studien, Gutachten und wissenschaftliche Untersuchungen hervorgebracht, und es gibt keine Berufsgruppe, die auch nur annähernd so ausführlich hinsichtlich des Missbrauchs-Verhaltens untersucht ist wie katholischen Priester." Da ähnliche Erhebungen bei Lehrern, Trainern, in Jugend- und Sozialarbeit Tätigen, Kindergartenpädagogen oder auch Psychologen und Therapeuten fehlten und es somit auch keine Vergleichsgruppe gebe, sei das Bild in der Öffentlichkeit verzerrt. "Es ist wissenschaftlich nicht haltbar zu sagen, dass Priester öfter missbrauchen", so Zollner. Immerhin habe das hohe Problembewusstsein in der Kirche zu einem Fortschritt bei der Prävention geführt, womit die Kirche heute die "größte und effizienteste Kinderschutzorganisation der Welt" sei (vgl. Bericht im Kathpress-Tagesdienst vom 25. April).
Zugleich räumte Zollner ein, dass die Kirche mit ihrer Präsenz in allen Ländern als Teil der jeweiligen Gesellschaft und Kultur in die Zusammenhänge vor Ort verstrickt sei. Sexualität und erst recht der Missbrauch sei in Zusammenhang mit Religion, Familie oder Schule vielerorts weiter ein Tabu. Folglich gebe es kulturell "sehr große Unterschiede, was das Bewusstsein über die Unmöglichkeit sexueller Gewalt angeht, hinsichtlich der Sprachfähigkeit bei diesem Thema und auch in Bezug auf den Willen, nicht nur reaktiv bei öffentlichem Druck nach dem Aufkommen von Skandalen, sondern auch proaktiv damit umzugehen", betonte der Experte.
Rezente Fälle in Italien
Und selbst in Westeuropa gebe es eine Ausnahme, sei doch in Italien das Thema sexueller Gewalt "noch immer nicht angekommen". Das Land am Stiefel, in dem auch der Vatikan liege und das somit mit seiner Mentalität die Gestalt der Kirche entscheidend präge, weise in vielerlei Hinsicht Eigenheiten auf. "In Italien zeigt bisher keine der großen Säulen und Identifikationsobjekte der dortigen Gesellschaft - wie Sport, Mode, Film, Medien und Tourismus - Interesse, dass über Missbrauch gesprochen wird, da jede von ihnen mit Missbrauch infiziert ist", berichtete Zollner. Die #Metoo-Bewegung sei an Italien vorübergegangen, und ähnlich hätten auch Vorladungen in Missbrauchsprozessen der Wählerinnengunst eines früheren Regierungschefs kaum geschadet.
Dass Italiens Kirche hier nur eine weitere dieser genannten Säulen darstelle, geht laut Zollner aus dem Umstand hervor, dass das Land bei den im Vatikan bekanntwerdenden Fällen von Anschuldigungen über rezenten Missbrauch weltweit an zweiter Stelle liege, gleich hinter den USA. "Überall sonst in der Welt fände man diese Nachricht sofort auf den Titelseiten, in Italien jedoch nicht", so der Präventionsexperte. Wohl türme sich auch in Italiens Redaktionen Material über Missbrauchsfälle, "doch es gibt unter den großen Medienhäusern oder Tageszeitung niemanden, der dies bisher zu einem großen Thema gemacht hätte, wie es die Aufgabe von Journalisten wäre." Große Enthüllungen wie in Deutschland oder Österreich 2010 habe es in Italien daher nicht gegeben.
Rom als Last
Nur spekulieren könne man über die Ursachen dieses Missstandes, sagte Zollner. Zum mediterranen Macho-Gehabe und einer "vielleicht griechisch-antik-römischen Verklärung von Sexualität" geselle sich eine Grundhaltung des "Leben und leben lassen", bei dem man übereinander nichts Schlechtes sagen wolle und es unbedingt vermeide, eine schlechte Figur zu machen ("fare brutta figura"). Bei Skandalen heiße es daher schnell "Schwamm drüber!", Verantwortung werde nicht übernommen und das Thema verschwiegen. "Das Schlimmste ist für die Kirche, dass sie in Rom in starker Wechselwirkung mit dieser Gesellschaft steht und sich dieses Muster dabei weltweit überträgt", mahnte der im Vatikan wirkende Experte.
Nur teilweise und regional unterschiedlich bemühe sich Italiens Kirche um Prävention. Maßnahmen dazu seien laut Zollner "in einigen der 212 Diözesen sehr stark und konsistent, in anderen hingegen überhaupt nicht" ausgeprägt. 2019 habe die Bischofskonferenz beispielsweise bestimmt, jede Diözese brauche ein Büro für Missbrauchs-Betroffene. Fünf Jahre später verfügten 160 Diözesen eine Adresse dafür, doch es sei unklar, ob die Büros tatsächlich existierten. Jedenfalls sei die Kirche in Italien und weltweit in Sachen Aufarbeitung und Kinderschutz ein "großer Flickenteppich mit Gegenden, wo es gut läuft, und anderen, wo Wüste ist" - und "keineswegs ein monolithischer, hierarchisch von oben nach unten strukturierter Block, in dem einer sagt, wo es langgeht".
Zertifizierungen in den USA
Grundprinzipien im Umgang mit Missbrauch müssten immer in die jeweilige Kultur und Rechtsraum übersetzt werden, denn allgemein gültige Lösungen gebe es nicht, so die Erfahrung des Experten in einem an den Vortrag anschließenden Journalistengespräch. Nur aus einigen US-Bundesstaaten kenne er beispielsweise das Konzept der Zertifizierung von Pfarren und Schulen durch Agenturen. Es entspreche dem dortigen Rechtsverständnis, dass Versicherungen ohne diese Begutachtung nicht zahlungsbereit seien. "Dabei handelt es sich um eine rein rechtlich-finanzielle Angelegenheit, die mit effektivem Gewinn für den Kinderschutz nichts zu tun hat. Recht und Leitlinien allein schaffen keine sichere Umwelt", gab Zollner zu bedenken.
Als "hoch umstritten und bisher nicht wissenschaftlich belegt" bezeichnete der Kinderschutz-Experte die Wirksamkeit spezifischer Präventionsmaßnahmen. Wohl seien Anschuldigungen über neue Vorfälle bleibend zurückgegangen, wo derartige Maßnahmen, Schulungen und Leitlinien eingeführt wurden - wie etwa in den USA ab 2002. "Wir wissen aber nicht, was letztlich die Veränderung ausgelöst hat: Waren es die Medien? Die Leitlinien - und falls ja, was genau in den Leitlinien? Welche Maßnahmen? Die Schulungen? Die veränderten Beziehungen des Bischofs zu den Priestern, vom Provinzial zum Ordensmann?", so Zollner.
Best Practice
Einige wenige "Best practice"-Beispiele nannte Zollner bei seinem Vortrag. Fasziniert zeigte er sich von der französischen Bischofskonferenz, die bei jeder Sitzung seit 2017 aus einem Buch mit Geschichten von Missbrauchsopfern verlese: "Betroffene sind mit ihrer Stimme da." In Österreich sei es "vorbildlich" gewesen, dass Kardinal Christoph Schönborn 2010 "intuitiv die Notwendigkeit erkannt" und es geschafft habe, für die Aufarbeitung auch die Orden ins Boot zu holen. Der Frauenorden "Franciscan Missionaries of Mary" wurde von Zollner dafür gewürdigt, andere für Prävention auszubilden und deren Erfahrungen auch in die eigene Ordenstätigkeit einfließen zu lassen. Vielversprechend sei ein E-Learning-Programm zu den Themen "Missbrauch von Ordensfrauen" und "Missbrauch durch Ordensfrauen", das eine Stiftung zur Förderung von Ordensfrauen in Afrika in Auftrag gegeben habe und Ende Mai präsentieren werde, und auch bei den Franziskanern sei die systematische Ausbildung ihres Personals vorbildlich.
Zur Fragestellung "Was müssen wir angehen?" forderte Zollner einerseits die Entwicklung einer "Theologie der Macht". Eine Auseinandersetzung mit diesem Thema sei dringend notwendig, sähen doch Opfer von Gewalt und Missbrauch rückblickend besonders die erlebte Ohnmacht als ihr Problem. Das Selbstverständnis als Kirche müsse auf die Menschen statt auf die Institution fokussiert, die Furcht vor dem Skandal abgelegt und das Thema Sexualität in Verbindung mit Gewalt, Sünde und Scham neu ins Gespräch gebracht werden. Auch ein besseres Eingeständnis eigener Verbrechen sei unumgänglich, wofür die Kirche eigentlich Vorlagen haben sollte. Zollner: "Auch eine Beichte ist nur dann gültig, wenn es ehrliche Reue, ein klares Bekenntnis und tätige Wiedergutmachung und Buße gibt."
Auf Seite der Verwundeten
Mit ihrer Erfahrung und Vorreiterrolle in Sachen Kinderschutz und Safeguarding könne die Kirche mit einer eigenen Mentalitätsveränderung auch in Kontexten wirken, in denen das Problembewusstsein bisher noch völlig fehle, so Zollners Hoffnung für die Zukunft. Beispielsweise hätten laut Schätzungen 90 Prozent aller Frauen auf der Flucht sexuellen Missbrauch selbst erfahren, "bei den Kindern wird es nicht anders sein". Auch dort, wo Naturkatastrophen oder Kriege eine Gesellschaftsordnung zerstören - der Jesuit nannte hier Haiti, Jemen und den Sudan - sei "davon auszugehen, dass Millionen Menschen sexuell missbraucht und ausgebeutet werden". Ebenso gelte es in der Betreuung von Kranken und Behinderten, in Altersheimen oder im Sozialbereich genauer hinzusehen.
"Das Bewusstsein für Missbrauch ist nicht überall da, die Realität aber schon - sie begleitet die Menschheitsgeschichte von Anfang an, es ist heute so und wird auch in Zukunft so sein", gab sich Zollner illusionslos. Erst recht sei es daher wichtig, "dass wir nüchtern und mit langem Atem vorangehen und uns einsetzen, dass so wenig Missbrauch wie möglich geschieht". Die Kirche im deutschsprachigen Raum und auch weltweit stehe vor einer notwendigen "radikalen Veränderung", welche das Priester- und Kirchenbild betreffe, aber auch die Art zu kommunizieren: "Weg von Kategorialem und hin zum Narrativen - zu den Geschichten, die uns beeindrucken, mit denen wir das Erfahrene weitergeben." Das gelte auch für das Thema Missbrauch und den Auftrag der Kirche, "mit Jesus bei denen zu sein, die verwundet sind und Schutz brauchen", schloss der Ordensmann.