Gregoriana-Theologe Beer bei Wiener Präventions-Fachtagung: Enorme globale Unterschiede beim Verständnis und Zugang zu Kinderschutz - Kirche muss bei Synode um weltweit gemeinsamen Weg ringen und künftig noch mehr die Betroffenen einbinden
Wien, 12.04.2024 (KAP) Schutzkonzepte gegen Gewalt und Missbrauch in der Kirche sind vor allem ein deutschsprachiges Phänomen, und auch die Prävention wird weltweit höchst unterschiedlich verstanden: Das hat der deutsche Theologe Peter Beer, Professor am Zentrum für Kinderschutz der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, am 10. April bei der bisher zweiten Fachtagung der deutschsprachigen Länder zur kirchlichen Missbrauchsprävention im Wiener Kardinal-König-Haus dargelegt. Der Experte und frühere Münchner Generalvikar beurteilte dabei auch die Vatikanschreiben "Dignitas infinita" und die Behandlung des Missbrauchs-Aspekts bei der Weltbischofssynode ebenfalls aus dem Blick der Weltkirche.
Nicht nur Missbrauchs-Prävention an sich - Beer bevorzugte den Ausdruck "Safeguarding" - sei ein "sehr disparates Feld", sondern auch die Einschätzung, was überhaupt Missbrauch ist und welche Bedeutung man der Auseinandersetzung damit beimisst. "Im Gespräch mit Bischöfen aus der Weltkirche hört man mitunter etwa, als Maßnahme der Missbrauchs-Prävention sei ein Zaun um das Kinderheim gebaut worden" - was in Gesprächsrunden für Lacher und Nachfragen von europäischer Seite sorge. Ernst gemeint und bei näherem Blick auch angebracht sei die Maßnahme dennoch, angesichts eines Umfelds großer sozialer Schwierigkeiten und bewaffneter Konflikte in dem betreffenden afrikanischen Land.
Als anderes Beispiel nannte der Vatikan-Experte die Erfahrung aus einem Kurs mit neuernannten Rektoren von Priesterseminaren in Ländern des Globalen Südens. Gemeinsam sei besprochen worden, welchen Gefährdungen Seminaristen ausgesetzt seien, wobei auch Missbrauch Thema war. "Ein Teilnehmer sagte, es sei bereits ein großer Erfolg von Prävention, wenn Seminaristen ihre Waffe zuhause lassen und im Kontext des Seminars nicht anwenden", berichtete Beer. In manchen Ländern wiederum sei man mit der Meldung von Missbrauchstätern bei staatlichen Stellen äußerst zurückhaltend - "denn eine Anzeige bedeutet den sicheren Tod des Täters".
Synodal mit Opfern reden
Angesichts solcher Unterschiede sei der interkulturelle und auch interreligiöse Austausch über den Umgang mit und Bekämpfung von Missbrauch besonders wichtig, sagte der Theologe. "Weil dasselbe Wort für die einzelnen Menschen unterschiedliche Bedeutung hat, müssen wir um eine gemeinsame Sprache und Einschätzung ringen." Besonders sichtbar werde das, wenn in weltweiten innerkirchlichen Foren wie etwa der Weltsynode das Thema zur Sprache komme. Im Arbeitsdokument (Instrumentum laboris) und Synthesebericht der Synodensitzung vergangenen Herbst seien hier - für die europäische Öffentlichkeit großteils unbemerkt - große Fortschritte erzielt und eine "synodale Umkehr" hin zu einer Kultur der Prävention aller Art von Missbrauch eingefordert worden.
Freilich: Auch auf Vatikan-Ebene gebe es noch viel aufzuholen, auch auf Zeichen- und Symbolebene, so die Einschätzung des Experten. Etwa das Päpstliche Schweigegebot für Synodale während des Treffens sei "in einer Linie mit Vertuschung" verstanden worden von Missbrauchs-Betroffenen, von deren Reihen wiederum niemand zur Synodenteilnahme eingeladen worden sei - wie auch keine Synodale offiziell zu den Protesten von Missbrauchsopfern während der Synode erschienen seien. Das als Motto der Synode gepriesene "echte, vertiefte Zuhören" und das "Gespräch im Geist" müsse besonders auch mit genau diesen Gruppen begonnen werden, so Beers Forderung.
Fünf Ausreden
Genaues Hinsehen forderte der in Rom wirkende Theologe bei den Schutzkonzepten, um die sich Missbrauchs-Prävention drehe, "da es letztlich oft auf das Copy-Paste-Prinzip hinausläuft. Wichtig ist nicht nur das Vorhandensein eines Konzepts, sondern vor allem, wie und wie nachhaltig diese Absichtserklärungen umgesetzt werden." Stets sei die konkrete Übernahme von Verantwortung und Maßnahmen, um zu einer "Veränderung von Haltungen" zu gelangen, wichtige Knackpunkte. Viele motivierende Argumente seien vonnöten, damit die Verhinderung, Bekämpfung und Wiedergutmachung von Gewalt und Missbrauch zum Dauerthema würden und nicht den "klassischen weltkirchlichen Ausreden, um sich nicht damit zu beschäftigen" zu Opfer fielen.
Fünf solcher Ausreden benannte der Experte: "Der meiste Missbrauch passiert in den Familien, warum sollen wir anfangen? - Es ist Verantwortung des einzelnen Täters, nicht der Kirche. - Die Kirche schadet sich durch öffentliche Auseinandersetzung mit Missbrauch selbst. - Es ist untheologisch, Begriffe der Unternehmenswelt wie etwa Compliance einfach auf die Kirche übertragen. - Die Beschäftigung damit bindet innerkirchlich zu viele Kräfte und Ressourcen, die dann ihrer eigentlichen Aufgabe fehlen." Zu allen fänden sich laut Beer gewichtige Gegenargumente, erst recht beim letzten Punkt, etwa: "Prävention ist nicht irgendeine Zusatzaufgabe, sondern Kern der Sendung der Kirche, wenn man jesuanisches Handeln ernst nimmt."
Missbrauch und Würde
Auch auf "Dignitas infinita" ging der Experte ein. Obwohl die jüngste Vatikan-Erklärung im deutschsprachigen Raum bislang eher mit gemischten Gefühlen kommentiert werde, sei es als sehr positiv anzumerken, "dass das Thema sexueller Missbrauch nun erstmals in den großen Bogen der Verletzung der Menschenwürde gestellt wurde", urteilte der Theologe. Rückzufragen gelte es, ob nicht andere unter dem Stichwort Menschenwürde genannten Aspekte auch grundsätzlich von den mit Prävention befassten und beauftragten Stellen mitangedacht und behandelt werden sollten; eine "Erweiterung des Blicks" sei hier angebracht, befand Beer.