Soziologin Stoeckl sieht Kirche mittlerweile als "entscheidenden ideologischen Machtfaktor" Putins: Konservatismus an Stelle des früheren Marxismus-Leninismus getreten - Verfolgung kirchlicher Kritiker "schlimmer als in Sowjetzeit"
Expertin: Moskauer Orthodoxie immer mehr verlängerter Arm des Kreml
05.09.202512:00
Soziologin Stoeckl sieht Kirche mittlerweile als "entscheidenden ideologischen Machtfaktor" Putins: Konservatismus an Stelle des früheren Marxismus-Leninismus getreten - Verfolgung kirchlicher Kritiker "schlimmer als in Sowjetzeit"
Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist die russisch-orthodoxe Kirche laut der Soziologin Kristina Stoeckl zu einem entscheidenden ideologischen Machtfaktor geworden. In einem Interview, das kürzlich von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) veröffentlicht wurde, analysierte die renommierte Russland-Expertin die enge Verbindung zwischen Kirche und Staat. Stoeckl ist Professorin an der LUISS-Universität Rom, Mitglied der ÖAW sowie vielfache Preisträgerin, darunter des renommierten ERC Starting Grant.
Die russisch-orthodoxe Kirche sei nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit unterschiedlichen Prägungen in die neue Zeit gestartet, erklärte Stoeckl. Diese reichten von Kollaboration über Dissidenz bis hin zur Emigration. Doch spätestens mit dem Krieg gegen die Ukraine sei diese Vielfalt verschwunden. "Der Krieg hat alles verändert. Es gibt nun faktisch nur noch ein Modell: Staat und Kirche sind miteinander verbunden", sagte Stoeckl.
Diese enge Verbindung spiegle sich auch in einer informellen Allianz auf höchster Ebene wider - zwischen Präsident Wladimir Putin, Patriarch Kyrill und Sicherheitsratssekretär Nikolai Patruschew. Zwar gebe es keine formale Vereinbarung, so Stoeckl, doch handle es sich um eine ideologische Übereinkunft dreier Männer aus demselben System. "In ihrem Staatsverständnis funktioniert ein Staat ohne eine starke Ideologie nicht - früher war das Marxismus-Leninismus, heute ist es der Konservatismus", betonte sie.
Gegen den Westen
Diese konservative Ideologie sei klar gegen westliche Werte gerichtet. "Das ist ein Russland traditioneller Werte: kinderreiche Familien, starke Männer, 'schwache' Frauen", so Stoeckl wörtlich. Damit werde ein Feindbild konstruiert, das Homosexualität, Frauenrechte und den liberalen Westen insgesamt einschließe. Zugleich rechtfertige diese Denkweise auch den Krieg als "Pflicht, russische Herzländer wie die Ukraine wieder zurückzubringen".
Obwohl Russland in der Verfassung formal ein säkularer Staat bleibe, sei die Entflechtung von Kirche und Staat längst obsolet. Schon seit den frühen 2000er Jahren seien Gesetze in Kraft gesetzt worden, die Kirche und Staat eng verzahnten. "Rückblickend wirkt das wie eine systematische Vorbereitung auf den heutigen Zustand", analysierte die Forscherin.
Zur religiösen Praxis der Bevölkerung erklärte Stoeckl, dass eine Mehrheit sich zwar als orthodox bezeichne, jedoch nur ein Bruchteil regelmäßig die Kirche besuche. "Noch 1991 identifizierten sich 60-70 Prozent als atheistisch, nur 20 Prozent als religiös", so die Soziologin. Heute hingegen bezeichnen sich 80 Prozent als orthodox, aber lediglich 8-9 Prozent besuchen regelmäßig Gottesdienste.
Trügerische Hoffnung
Für den Staat sei die Kirche laut Stoeckl vor allem ein Instrument zur sozialen Stabilisierung. Diese Hoffnung sei jedoch trügerisch. "Die Realität schaut freilich anders aus: Scheidungsraten bleiben hoch, Demografie bleibt prekär - durch den Krieg verschärft", warnte sie. Kritischer Widerstand gegen den Krieg komme vor allem von jungen, urbanen Milieus, deren Stimmen durch Repression oder Auswanderung verstummt seien.
Im Inneren der Kirche zeichnete Stoeckl ein düsteres Bild: "Die Kirche hat keine geistig-ideologische Unabhängigkeit mehr." Die Hierarchie sei durch den Patriarchen von Moskau vollständig durchstrukturiert, kritische Priester würden verfolgt. "Auf gewisse Art und Weise würde ich sagen, es ist sogar schlimmer" als zu Zeiten der Sowjetunion.
Strategische Expansion
Auch global strebe das Moskauer Patriarchat nach Einfluss. In Afrika versuche Moskau etwa, orthodoxe Gemeinden anderer Patriarchate mit finanzieller und politischer Unterstützung abzuwerben. "Es ist eine kirchliche Expansion im Gefolge geostrategischer Ziele", so Stoeckl. Diese Entwicklung spiegle sich sogar in Teilen der westlichen Welt wider: "Selbst in Westeuropa und den USA konvertieren zum Beispiel radikale Rechte zur russisch-orthodoxen Kirche - und suchen darin ihre ideologische Heimat."
Für die Orthodoxie insgesamt sei die Situation daher richtungsweisend. "Die russisch-orthodoxe Kirche kippt derzeit in Richtung antimoderner Radikalität - und prägt damit die globale Orthodoxie auf lange Sicht", so Stoeckl.