Tück: Papst-Schreiben greift Franziskus-Erbe mit eigenen Akzenten auf
09.10.202512:16
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Wiener Dogmatiker zu neuem Papst-Schreiben "Dilexi te": "Seine Mahnung zur 'Liebe zu den Armen' wird man nicht überhören können. In den USA nicht und hierzulande auch nicht"
Wien, 09.10.2025 (KAP) Eine Fortschreibung des "unvollendeten Erbes" von Papst Franziskus mit "eigenen Akzenten" erkennt der Wiener Theologe Prof. Jan-Heiner Tück in dem am Donnerstag veröffentlichten Papst-Schreiben "Dilexi te". Leo XIV. zeichne darin ein komplexes Bild von Armut, die sich nicht auf materielle Fragen begrenzen lasse, sondern auch soziale Ausgrenzung, digitale Stigmatisierung und Vereinsamung im Alter kenne. Ebenso vielfältig zeige sich die Antwort der Kirche durch die Geschichte hindurch - angefangen von den Kirchenvätern bis hin in die Gegenwart und das befreiungstheologische Diktum einer "Option für die Armen". Die Mahnung zur "Liebe zu den Armen" werde man daher "nicht überhören können. In den USA nicht und hierzulande auch nicht", so Tück in einem Gastbeitrag auf "katholisch.at".
Entfaltet sieht Tück diese Themen durch Leo in fünf Aspekten: Einem "israeltheologischen" Rekurs auf das "Exodus-Narrativ", also die Erzählung von der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten. Darin zeige sich, dass Gott der Not der Menschen gegenüber nicht gleichgültig sei, sondern handle; weiters einem "christologischen" Aspekt, insofern sich Gott im Kind in der Krippe entäußere und sich so mit den Entrechteten und Armen solidarisiere. Daraus folgere Leo drittens eine untrennbare Zusammengehörigkeit von Gottes- und Nächstenliebe, aus der - viertens - auch ein spezielles Kirchenverständnis folge. Tück: "Man kann nicht die memoria passionis in Gestalt des gebrochenen Brotes feiern und die Leidenden draußen vergessen und hungern lassen, das widerspricht dem Evangelium." Und schließlich gebe es eine "eschatologische Dimension", insofern jeder Mensch am Ende der Zeiten rechenschaftspflichtig über die von ihm geübte Solidarität mit den Armen sei.
Insgesamt greife das Schreiben die Anliegen der Befreiungstheologie und der Neuen Politischen Theologie erkennbar auf, so Tück weiter - etwa durch den Appell zur praktischen Solidarität, aber auch durch das Beharren auf dem Prinzip der "Subjektwerdung aller vor Gott" und einem Plädoyer für eine "Mystik der offenen Augen". Überraschend sei indes, dass Leo die aus ökonomischer Sicht vielfach kritisierte Rede seines Vorgängers von einer "Diktatur einer Wirtschaft, die tötet" aufgreift, ohne Unterscheidungen etwa im Blick auf Prinzipien sozialer Marktwirtschaft o.ä. einzuziehen.
Als eine bemerkenswerte "Leerstelle" bezeichnete Tück die Tatsache, dass Papst Leo als Augustiner offenbar bewusst nicht die auf Augustinus zurückgehende Denkfigur des "Ordo amoris" (abgestufte Nächstenliebe) zurückgreift. Tück vermutet dahinter eine bewusste Entscheidung des Papstes, sich nicht als "Anti-Trump zu positionieren" - schließlich sei die Denkfigur von der Trump-Administration, konkret: von Vize-Präsident James David Vance, aufgegriffen worden, um einen verschärften Kurs in der Migrationspolitik zu rechtfertigen. Als Kardinal hatte Robert Prevost dieser Deutung bereits klar widersprochen. "Als Brückenbauer und Papst hat Leo der Versuchung widerstanden, sich als Anti-Trump zu positionieren. Seine Mahnung zur 'Liebe zu den Armen' aber wird man nicht überhören können. In den USA nicht und hierzulande auch nicht", so Tück abschließend.