Kongress für Moraltheologie und Sozialethik in Puchberg bei Wels macht bisher wenig beleuchteten Einfluss der Affekte auf ethische Entscheidungen bewusst - Bischof Scheuer wirbt für mehr Mitgefühl
Linz, 16.09.2025 (KAP) Die bisher in der theologischen Ethik noch kaum berücksichtigte Bedeutung von Emotionen haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergangene Woche in Puchberg bei Wels diskutiert. Der 42. Internationale Kongress für Moraltheologie und Sozialethik stand dort unter dem Titel "Gefühle und Ethik", informierte die Katholische Privat-Universität Linz, die die Veranstaltung organisierte, am Dienstag. An die 90 Fachleute aus zehn europäischen Ländern reflektierten dabei über die Rolle von Gefühlen in moraltheologischen und sozialethischen Diskursen.
Entscheidungen werden selten rein rational getroffen, denn starke Gefühle prägen das ethische Urteilen weit mehr als bisher angenommen, dominieren in der Öffentlichkeit und beanspruchen Beachtung: "Ob bei Großdemonstrationen zum Konflikt im Nahen Osten oder beim Gedenkgottesdienst nach einem Amoklauf, ob in Debatten zum assistierten Suizid oder zu den großen ökologischen Herausforderungen", hieß es von den Veranstaltern. Während andere Geistes- und Sozialwissenschaften die Gefühle schon seit Beginn des Jahrtausends adressieren - mittlerweile ist von einem "affective turn" die Rede -, habe die theologische Ethik dieses Gebiet bislang nur ansatzweise aufgegriffen.
Sowohl die Moraltheologie als auch die Sozialethik könnten von einer größeren Sensibilität für die Gefühle enorm profitieren: Eine kritische Aufklärung der Gefühle durch die Ethik sei genauso nötig wie die kritische Aufklärung der Ethik durch die Gefühle, so der Tenor vieler Fachvorträge des Kongresses aus verschiedensten Wissenschaftsbereichen. Dabei sprachen unter anderem Gary S. Schaal (Hamburg) über neurowissenschaftliche Emotionstheorien, Ralf Lutz (Graz) über moralpsychologische Zugänge, und Sighard Neckel (Hamburg) analysierte Schamgefühle aus soziologischer Sicht. In Arbeitsgruppen wurden zudem die Bedeutung von Emotionen in konkreten Handlungsfeldern wie Politik, Wirtschaft, Bildung oder Ethikkommissionen behandelt.
Ein Höhepunkt der Tagung war eine Podiumsdiskussion zur Frage, wie destruktive und produktive Gefühle - Wut oder Mitgefühl etwa - in politisch-ethischen Diskursen kultiviert werden können. Hier diskutierten Stephanie Höllinger (Mainz), Andreas Lob-Hüdepohl (Berlin) und Jochen Sautermeister (Bonn) unter der Moderation von Doris Helmberger-Fleckl ("Die Furche"). In Workshops präsentierten Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aktuelle Forschungsprojekte, von "Empathie und Urteilskraft" über "Fingerspitzengefühl als ethische Kategorie" bis zu "Rache und Schuldgefühlen". Auch interkulturelle Konzepte wie "Sentipensar", ein Erkenntnismodell aus dem Globalen Süden, wurden thematisiert.
Spiritueller Abschluss der Tagung war eine Eucharistiefeier mit Bischof Manfred Scheuer, der in seiner Predigt für jene Einfühlung warb, die mehr sei als bloßes Mitgefühl. In Anlehnung an Edith Stein beschrieb er sie als eine aufmerksame, offene Haltung gegenüber dem anderen. Wer sich wirklich einfühlen und echte Nähe und Verständnis entwickeln wolle, müsse bereit sein, sich selbst zurückzunehmen, zuzuhören und nicht vorschnell zu urteilen. Scheuer widersprach dabei der Ansicht, Mitgefühl sei eine bloß schwache oder unvernünftige Regung. Es entstehe aus der Nähe zum Leid, sofern diese aus echter innerer Beteiligung statt nur aus Pflicht gesucht werde. Wer das Leid eines anderen wirklich wahrnehme, könne nicht gleichgültig bleiben, so der Bischof.
Bischof Scheuer sprach weiters auch von einer nötigen "Unterscheidung der Geister" als einer wichtigen geistigen Fähigkeit. Es gehe darum zu spüren, welche Kräfte im Inneren und in der Welt wirkten: Was führe zum Leben und was zerstöre es? Diese Fähigkeit sei ein "Frühwarnsystem" für das eigene Gewissen, aber auch für das Zusammenleben in Kirche und Gesellschaft. Wer genau hinschaue und hinhöre, könne zwischen tröstender Wahrheit und falschem Schein unterscheiden.
Das Rahmenprogramm der Tagung führte die Teilnehmenden in den Mariendom in Linz, wo in vier thematisch geführten Rundgängen Aspekte kirchlicher Architektur, Liturgie und Erinnerungskultur beleuchtet wurden. Ein Tagungsband mit den Beiträgen ist für das Jahr 2026 angekündigt.