Ungarns Primas: Ein "Ratzingerianer" und Mann des nüchternen Wortes
Budapest/Rom, 04.05.2025 (KAP) Er zählt zu den profiliertesten Kirchenvertretern in Mittel- und Osteuropa, und wenn es um den möglichen künftigen Papst geht, fällt stets auch sein Name: Kardinal Péter Erdö. Noch im April 2023 konnte Ungarns Primas, der von 2006 bis 2016 auch Vorsitzender des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) war, Papst Franziskus in seiner Bischofsstadt Budapest begrüßen - schon zum zweiten Mal nach 2021 als die Metropole Schauplatz des katholischen Eucharistischen Weltkongresses war.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten steht der 72-jährige Erdö als Erzbischof an der Spitze der ungarischen Hauptstadtdiözese mit ihren Doppelsitzen in Budapest und Esztergom (Gran), ehemals Metropole des Königreichs Ungarn. Als "zurückhaltend" und "konservativ" wird er dieser Tage in vielen Biografien über die möglichen Nachfolger von Papst Franziskus beschrieben.
Der hochgebildete Theologe und Kirchenrechtler Erdö bringt jedenfalls ein klares Verständnis für Strukturen sowie politisches Kalkül mit. Das Konkordat zwischen dem postkommunistischen Ungarn und dem Heiligen Stuhl, das der Kirche heute wieder ein breites Engagement im Bildungs- und Sozialwesen ermöglicht, trägt auch seine Handschrift.
Mann der Wissenschaft
Kirchenpolitisch und theologisch gilt der ungarische Kardinal mit Blick auf das Wirken von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. als "Ratzingerianer". Der Primas ist vor allem ein Mann des Wortes und der Wissenschaft, nicht der großen Öffentlichkeit. Dennoch hat er sich in seinen Ämtern zu zahlreichen gesellschaftlich und kirchlich relevanten Themen geäußert: Postkommunismus, Habgier, Sekten, Ausländerfeindlichkeit. Christentum als ausschließenden, negativen Identitätsmarker zu verwenden, damit kann Erdö nichts anfangen. "Christentum definiert niemals, was ich nicht bin. Es bedeutet, dass ich zu Christus gehöre", betonte er in einem Interview.
Über die Gesellschaft seiner ungarischen Heimat spricht Erdö schnörkellos: Der Kommunismus habe den "bürgerlichen Anstand ausgelöscht"; die freiwillige Befolgung von Rechtsnormen sei sehr niedrig. Heute seien die Menschen viel stärker durch Bilder und elektronische Medien zu manipulieren als durch ein Parteiprogramm oder eine durchdachte Rede zu überzeugen.
Tagespolitisch zurückhaltend
Ungarn attestiert Erdö "mehr religiöse Trockenheit" als in anderen früher sozialistischen Staaten Mitteleuropas. Entsprechend betont der Kardinal immer wieder die Bedeutung des Christentums als gelebte Religion. In die ersten Jahren seiner Zeit als Erzbischof fiel in Budapest 2007 auch die "Stadtmission"-Initiative, nach dem Vorbild von Wien (2003), Paris (2004), Lissabon (2005) und Brüssel (2006). Erdö steht auch ein für die Ökumene, insbesondere mit der Orthodoxie und auch die Förderung des Dialogs mit dem Judentum. Mehrfach sprach er deutliche Worte gegen Antisemitismus.
Zur Tagespolitik und Einschätzungen zur Regierung Viktor Orbán hingegen ist es eher still um den Budapester Erzbischof - und wenn, dann gilt es zwischen den Zeilen seiner öffentlichen Ansprachen zu lesen. 2022 reflektierte Erdö bei einer Priesterweihe über den Priesterberuf und meinte: "Wir werden oft auf provokante Weise gefragt, was wir zu jedem Thema des Alltags, der Politik oder der Wirtschaft denken, oder warum wir uns nicht lauter zu Wort melden. Doch unter den vielen schönen und wichtigen Berufungen sticht die Verkündigung des Evangeliums hervor."
Anwaltskarriere verwehrt
Geboren am 25. Juni 1952 in Budapest als erstes von sechs Kindern, besuchte Erdö das dortige Piaristengymnasium, trat ins Priesterseminar ein und studierte in Budapest und Rom Rechtswissenschaften und Theologie. Erdös Vater durfte in kommunistischer Zeit nicht als Jurist, seine Mutter nicht als Lehrerin arbeiten. Und auch dem späteren Kardinal wurde als Angehöriger einer bekannterweise religiös lebenden Familie eine Anwaltskarriere verwehrt.
Am 18. Juni 1975 wurde er zum Priester geweiht und war danach zwei Jahre lang Seelsorger einer Pfarre nahe Budapest. Nach Abschluss seiner Studien lehrte Erdö in den 1980er Jahren Theologie in Esztergom und an der päpstlichen Universität Gregoriana. Nach dem Sturz des Kommunismus wurde er Dekan und später Rektor an der katholischen Péter-Pázmány-Universität Budapest, an deren Wiederaufbau vor 30 Jahren er maßgeblichen Anteil hatte.
War jüngster Kardinal der Welt
Nach der Bischofsweihe, die Papst Johannes Paul II. am 6. Jänner 2000 persönlich vornahm - Mitkonsekrator im Petersdom war der heutige Kardinaldekan Giovanni Battista Re - war Erdö zunächst Weihbischof in der Diözese Székesfehérvár (Stuhlweißenburg).
Schon Ende 2002 ernannte ihn der Papst als Nachfolger von Kardinal László Paskai (1927-2015) überraschend zum Erzbischof von Esztergom-Budapest und Primas von Ungarn. Erdö war damals erst 50 Jahre alt. Beim Konsistorium im Oktober 2003 wurde er als damals jüngstes Mitglied ins Kardinalskollegium aufgenommen. Von 2005 bis 2015 leitete Erdö als Vorsitzender die Ungarische Bischofskonferenz.
Etliche Vatikan-Ämter
Im Vatikan hat der ungarische Kardinal eine Vielzahl von Funktionen inne. Er ist seit 2004 Mitglied der Apostolischen Signatur als höchstem Verwaltungsgericht der Römischen Kurie und war Mitglied der Bildungskongregation sowie im Päpstlichen Kulturrat. Nach wie vor gehört er den für Gottesdienst, Ostkirchen und Gesetzestexte zuständigen Vatikanbehörden an sowie seit 2020 dem Wirtschaftsrat.
Der polyglotte Kardinal spricht fließend Italienisch und beherrscht mehrere weitere Sprachen wie Deutsch, Englisch und Französisch. Seit Anfang der 2000er Jahre war er bei fast allen Bischofssynoden dabei, nicht aber bei den jüngsten Versammlungen der Weltsynode über Synodalität. 2014/15 fungierte Erdö als Generalrelator der Weltbischofssynoden zu Ehe und Familie.
Ungarns kulturelle Vielfalt
Vergleichsweise gerne spricht Erdö über die konfessionelle und kulturelle Vielfalt in Ungarn. Dem katholischen Portal "Crux" sagte er im Vorfeld des Papstbesuchs in Budapest 2023, die Ungarn hätten zwar "über ein Jahrtausend die westliche christliche Kultur aufgenommen; aber sie grenzten und grenzen direkt an den osteuropäischen Kulturraum und gehörten in bestimmten Epochen zum türkischen Reich".
Erdös Vater war ein katholischer Ungar aus dem heute rumänischen, orthodox und protestantisch geprägten Siebenbürgen; seine Mutter stammte aus dem heutigen Grenzland zur Slowakei. Bis heute sei es dumm, einen Osteuropäer nach seiner Nationalität zu fragen, sagt Erdö - denn über Jahrhunderte sei es dort gang und gäbe gewesen, auch über ethnische Grenzen hinweg zu heiraten. Auch heute gelte es, über Grenzen hinweg zu leben und zu denken.